Im November 2010 beteiligten wir uns an den Anti-Castor-Protesten im Wendland. Nachfolgend ein auswertenden Bericht aus der Stadtzeitung Terz.
Wenn der Castor-Transport 2010 in knappen Zahlen ausgedrückt werden sollte, dann könnte das so aussehen: Der Transport dauerte vom 5. bis 9. November, 92 Stunden von La Hague bis Gorleben. Knapp 20.000 Einsatzkräfte der Polizei – oft am Rande ihrer Belastungsgrenze. Ca. 25 Mio. Euro Kosten. 50.000 Menschen auf der Auftaktkundgebung in Dannenberg, weit über 10.000 bei den unterschiedlichen Blockade-Aktionen und gut 4.000 AktivistInnen beim Schottern. Niemals zuvor wurde der Castor-Transport ins Wendland so lange aufgehalten wie in diesem Jahr.
Also Grund zur völligen Zufriedenheit bei der Anti-Atom-Bewegung? Nein. Der Castor kam ans Ziel, und die katastrophale Atompolitik der Energiekonzerne und ihrer jeweiligen Regierungen geht weiter. So ist das derzeitige Kräfteverhältnis, die Bewegung hat nicht gesiegt. Die Ursache dafür ist, dass selbst bei 80prozentiger Ablehnung der Atomenergie in der Bevölkerung noch zu viele Menschen beim Protest verharren und sich nicht an den Widerstandsaktionen von “x-tausendmalquer”, “Widersetzen” oder der Kampagne “Castor? Schottern!” beteiligt haben. Bleibt das so, wird die Atommafia weiter ihre Interessen durchsetzen.
Zufrieden sein können die AktivistInnen allerdings mit der Entwicklung und den Aktivitäten des wendländischen Widerstands im Allgemeinen und der Kampagne “Castor? Schottern!” im Besonderen. Die Kampagne begann erst spät – und dafür hat erstaunlich viel geklappt. Die Mobilisierung für das Schottern lief großartig; und jede Repressionsandrohung brachte mehr Zulauf. Zugleich verstärkte die Schottern-Mobilisierung die gesamte Mobilisierung ins Wendland, ein sehr schöner Effekt!
Dass es nicht bei Absichtserklärungen blieb, wurde klar, als sich am Sonntagmorgen ab 4 Uhr bei klirrender Kälte rund 4.000 Menschen in Richtung Schiene bewegten, um dort zu schottern. Nur wenigen gelang es dort zu graben, die Polizei ging sofort mit Schlagstöcken und Pfefferspray gegen die AktivistInnen vor. Dennoch ist es gelungen, an mehreren Stellen das Gleisbett zu unterhöhlen.
Die Schotter-AktivistInnen erlitten mindestens 950 Augenverletzungen durch Pfefferspray-Einsätze sowie 29 Kopfplatzwunden, 16 Fingerbrüche und drei Gehirnerschütterungen durch Schläge und Tritte von zumeist vermummten und nicht identifizierbaren PolizistInnen. Die Polizei wollte nicht abschirmen oder festnehmen, sie wollte verletzen und handlungsunfähig machen. Die hohe Anzahl der Verletzten macht deutlich, dass auch “nette” PolizistInnen, die “eigentlich gegen Atomkraft sind” zu gefährlichen Bütteln der Regierenden werden, wenn sie den entsprechenden Befehl erhalten. Das hat in Deutschland eine lange Tradition.
Zwei Aspekte am Verhalten der AktivistInnen in dieser Situation sind jedoch bemerkenswert: Sie gaben nicht auf, trugen ihre Verletzten nach hinten und gingen erneut auf die Schienen. Und sie nutzten aus strategischen Gründen nicht ihr Recht auf Notwehr und verteidigten sich kaum. Wie beim nächsten Mal die Zahl der Verletzten deutlich gesenkt werden kann, darüber muss vordringlich geredet werden!
Was bleibt jenseits der Proteste? Die Kampagne “Castor? Schottern!” hat eine Diskursverschiebung in Richtung emanzipatorischer Selbstermächtigung befördert. Wurden Sitzblockaden in den letzten Jahren noch kriminalisiert, so gelten sie mittlerweile weithin als etabliert. Und das ist nicht Herrn Thierse zu verdanken, sondern natürlich den OrganistorInnen der Sitzblockaden – und in bescheidenem Ausmaße auch der Kampagne “Castor? Schottern!”. Der Hass der herrschenden Klasse richtete sich dieses Mal vor allem auf auf diese Kampagne, weil sie ein massenkompatibles Angebot für Widerstandsaktionen entwickelt hat. Wenn es gelingt, diesen Kurs beizubehalten und wenn sich immer mehr Menschen an Aktionen des zivilen Ungehorsams beteiligen, dann wankt die Herrschaft des Kapitals. Bis dahin ist jedoch noch einiges an Arbeit zu bewältigen – sollte es zutreffen, dass der nächste Castor nach Gorleben bereits 2011 rollt, bleibt kaum Zeit für eine Atempause.